Verfasst von: gdittrich | 5. Februar 2014

Psalm 139

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„Dieser Psalm ist für die Gottlosen gar schrecklich, für die Frommen aber voller Trost. Er verkündet Gottes Treue und Macht. Gott sei Lob, will er sagen, dass du allenthalben bist!“ (Martin Luther)
Bildmeditation von Ewald Stark, in: Johannes Kuhn, Von allen Seiten umgibst du mich, S. 22, Stuttgart 1979/1981.
Man kann versuchen den Psalm dialektisch zu verstehen. Die Dialektik (= Lehre von den Gegensätzen und deren Aufhebung) geht von einer These als bestehender Auffassung aus, deren Antithese als Widerspruch gegenübergestellt wird, woraus sich ein neues Verständnis als Synthese ergibt (vgl. Wikipedia). Diese Methode wird im folgenden auf das Luther-Zitat angewendet.

Neue Genfer Übersetzung

Psalm 139,1 Für den Dirigenten. Von David. Ein Psalm.

Schrecken (These)

„Dieser Psalm ist für die Gottlosen gar schrecklich …“

Der moderne Mensch ist von Skepsis geprägt. Angst ist das bestimmende Motiv Kontrolle über die Welt und andere Menschen zu erlangen. Gleichzeitig treibt ihn der Wille nach Eigenständigkeit und Unabhängigkeit unaufhaltsam voran.

Trost (Antithese)

„… für die Frommen aber voller Trost.“

Anders derjenige, der naiv vertraut, der sich lieben lässt.

Herr, du hast mich erforscht und kennst mich ´ganz genau`.

Stellt Gott Nachforschungen über mein Leben an? Ist er wie jemand, der unbedingt herausfinden will, wo man mir etwas am Zeug flicken kann? Ich bin misstrauisch und sehe in Gott einen personifizierten Überwacher, ein „Drohbild von Allgegenwart und Allwissenheit!“ (vgl. Kuhn) Er bemerkt, dass jemand persönliches Interesse an ihn hat und Anteil an seinem Leben nimmt.

Manche verbinden mit der Aussage auch die Spionageaktivitäten des US-amerikanischen Geheimdienstes NSA (Hafermann, https://www.facebook.com/pedrohafermann/posts/653485274675552).

2 Wenn ich mich setze oder aufstehe – du weißt es; meine Absichten erkennst du schon im Voraus.

Ist es nicht beunruhigend, dass jemand quasi telepathisch die eigenen Gedanken liest und die Möglichkeit besitzt diese zu manipulieren? Der Fromme dagegen kann ruhig sein und muss nicht panisch – auch auf negative Lebensumstände – reagieren. Das Wissen, dass jemand ihn kennt und versteht, entlastet ihm vom Druck letztlich am Ziel vorbei zu gehen.„Du verstehst meine Gedanken, dieses ganze Gewühl, das ich oft selber nicht begreife“ (Kuhn). Denn Gott ist in der Lage auch das verworrenste Gedankenknäuel zu entwirren.

3 Ob ich gehe oder liege, du siehst es,

wörtlich: du misst es ab; rechnet da jemand pedantisch alle Details nach?„… lauter Augen, die starr auf mich blicken!“ (Kuhn)

Ob Sitzen, Aufstehen, Gehen oder Liegen, alle menschlichen Zustände sind Gott bekannt und werden von ihm berücksichtigt.

mit all meinen Wegen bist du vertraut. 4 Ja, noch ehe mir ein Wort über die Lippen kommt, weißt du es schon genau, Herr.

Scheinbar die totale Überwachung über Tun und Reden. Ich fühle mich umsorgt und geborgen.

5 Von allen Seiten umschließt du mich

Es gleicht einer Gefangenschaft, wie von einer Glucke behütet zu sein. Wo bleibt die menschliche Autonomie, Selbstbestimmtheit und Freiheit? wörtlich: von rückwärts und von vorwärts„Es geht dem Beter hier nicht um ein Dogma von der Allwissenheit Gottes, sondern um eine sehr praktische Gewissheit von der Nähe und Gegenwart seines Herrn“ (Brandenburg).

und legst auf mich deine Hand.

Die Hand wiegt schwer wie eine Last. Berührungen von Händen zeigen, dass man es gut mit mir meint, mich segnen. „Augen, die acht haben auf mich, und Hände, die mich halten (…) wie die Hand des Freundes auf der Schulter und wie das gute Wort, das Brücken baut“ (Kuhn).

6 Ein unfassbares Wunder ist diese Erkenntnis für mich; zu hoch, als dass ich es je begreifen könnte.

Alles scheint unverständlich, unbeeinflussbar und der Willkür ausgeliefert. Von Absurdität und Sinnleere ist‘s nicht mehr weit zu Relativismus und Zynismus. Dem Frommen führt es ins Staunen: Es ist ein großer Gott! „Es bleibt uns nur der anbetende Glaube“ (Brandenburg).

7 Wohin könnte ich schon gehen, um deinem Geist zu entkommen, wohin fliehen, um deinem Blick zu entgehen? 8 Wenn ich zum Himmel emporstiege – so wärst du dort! Und würde ich im Totenreich mein Lager aufschlagen – dort wärst du auch! 9 Hätte ich Flügel und könnte mich wie die Morgenröte niederlassen am äußersten Ende des Meeres, 10 so würde auch dort deine Hand mich leiten, ja, deine rechte Hand würde mich halten!

Man meint sich gefangen, unentrinnbar scheint sich kein Ausweg aufzutun; aber gibt‘s denn überhaupt Gründe zu fliehen?! Doch ich kann nicht fallen, kann mich nicht verirren, werde immer wieder gefunden; und wenn ich falle, dann fangen mich Gottes Hände wieder auf.

11 Und spräche ich: »Nur noch Finsternis soll mich umgeben, und der helle Tag um mich her soll sich verwandeln in tiefste Nacht!«,

Warum wünscht ein Mensch Finsternis um sich? Denkt man vielleicht, dass es aus der durch Sünde und Schuld selbstverursachten Gottferne kein Entrinnen gibt?! Doch es gibt keine Situation, in der Gott nicht nahe wäre und herausführen würde, keine Tat die Gott nicht vergeben könnte. Denn Jesus selbst ist das Versprechen Gottes, den verirrten Menschen zu sich zu ziehen. Er vergibt Sünde und Schuld und schenkt neues Leben.

  • Jesus sagte: »Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht mehr in der Finsternis umherirren, sondern wird das Licht des Lebens haben.« Joh 8,12

Treue und Macht (Synthese)

„Gottes Treue und Macht … er ist allenthalben (d.h. überall)“

12 dann wäre selbst die Finsternis nicht finster für dich, und die Nacht würde leuchten wie der Tag. Ja – für dich wäre tiefste Dunkelheit so hell wie das Licht!

Finsternis und Licht fallen am Kreuz und der Auferstehung Jesu zusammen.

La ténèbre n’est point ténèbre devant toi: La nuit comme le jour est lumière (Die Finsternis ist nicht finster für dich. Die Nacht ist licht wie der Tag, Taizé-Lied, z.B. http://www.youtube.com/watch?v=jRldn8r1w9c).

13 Du bist es ja auch, der meinen Körper und meine Seele erschaffen hat, kunstvoll hast du mich gebildet im Leib meiner Mutter. 14 Ich danke dir dafür, dass ich so wunderbar erschaffen bin, es erfüllt mich mit Ehrfurcht. Ja, das habe ich erkannt: Deine Werke sind wunderbar! 15 Dir war ich nicht verborgen, als ich Gestalt annahm, als ich im Dunkeln erschaffen wurde, kunstvoll gebildet im tiefen Schoß der Erde. 16 Deine Augen sahen mich schon, als mein Leben im Leib meiner Mutter entstand.

Der Mensch darf sich als Gedanke Gottes wissen.

Alle Tage, die noch kommen sollten, waren in deinem Buch bereits aufgeschrieben, bevor noch einer von ihnen eintraf.

Vergangenes und Zukünftiges sind bei Gott.

17 Wie kostbar (oder: schwierig) sind für mich deine Gedanken, o Gott, es sind unbegreiflich viele! 18 Wollte ich sie zählen, so wären sie zahlreicher als alle Sandkörner ´dieser Welt`. Und ´schlafe ich ein und` erwache, so bin ich immer noch bei dir.

Hohe Einsicht („Ein unfassbares Wunder ist diese Erkenntnis für mich; zu hoch …“, vgl. V.6) und tiefe (bzw. schwierige) Gedanken zeigen Gottes qualitative, die unzählbare Menge seine quantitative Dimension.

  • Paulus schreibt: „O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!“ Röm 11,33 (Luther-Übersetzung)

19 Ach dass du, Gott, die töten würdest, die sich dir widersetzen! Und ihr alle, an deren Händen Blut klebt, haltet euch fern von mir! 20 Diese Menschen reden über dich, ´Gott`, in böser Absicht, sie, deine Feinde, missbrauchen deinen Namen. 21 Sollte ich nicht hassen, Herr, die dich hassen, nicht die verabscheuen, die sich gegen dich erheben? 22 Ja, ich hasse sie mit äußerstem Hass und betrachte sie als meine eigenen Feinde!

Die Feinde Gottes sind auch des Gerechten Feinde. Aber erschrickt der Psalmist nun über seine eigenen Gedanken, wenn er sich gleichsam an die Brust schlägt und „erforsche mich …“ ruft?

Vielleicht empfindet er die Möglichkeit von Gott getrennt zu werden oder sich selbst (unbewusst) von Gott zu trennen als Un-Leben. Ihn treibt die Sorge sich (wieder) in Gottes Hand zu begeben.

23 Erforsche mich, Gott, und erkenne, was in meinem Herzen vor sich geht; prüfe mich und erkenne meine Gedanken! 24 Sieh, ob ich einen Weg eingeschlagen habe, der mich von dir wegführen würde, und leite mich auf dem Weg, der ewig Bestand hat!

Anfangs stellte er noch die Erforschungen Gottes wie eine ihn überkommende, unveränderbare Tatsache fest („Herr, du hast mich erforscht …“), nun willigt er aus freier Entscheidung zustimmend ein, ja, wünscht sich diese sogar herbei. Ebenso empfindet er sich in V.10 quasi automatisch geleitet („… so würde auch dort deine Hand mich leiten“). Nun streckt er sich aus sich leiten zu lassen, um das Ziel seines ewigen Weges zu erreichen und das ist die anhaltende, fortdauernde Gemeinschaft mit Gott.

Weitere Interpretationen:

Finsternis als Demenz. Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern, Finsternis ist nicht finster bei dir – eine biblische Hoffnungsperspektive, http://www.bayern-evangelisch.de/www/engagiert/finsternis-ist-nicht-finster-bei-dir-eine-biblische-hoffnungsperspektive.php

Wissenschaftliche Arbeit mit persönlichen Bezug. Anni E. Lindner, Von Gott erkannt, http://www.igw.edu/assets/data/Abschlussarbeiten/Von_Gott_erkannt_Anni_E_Lindner_2012.pdf


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